Was bedroht uns?

Im Sommer 1946 lynchte eine vermeintlich unbekannte Gruppe von Weißen in der Nähe von Monroe, einer kleinen Stadt 45 Meilen östlich von Atlanta, Georgia, zwei junge afroamerikanische Paare. Die Morde an George W. und Mae Murray Dorsey sowie Roger und Dorothy Malcom erschütterten nicht nur Afroamerikaner*innen. Auch weiße Amerikaner*innen zeigten sich von den Ereignissen geschockt. Viele Südstaatler*innen betrauerten jedoch weniger den Mord an den vier jungen Afroamerikaner*innen. Vielmehr fürchteten sie die politischen und sozialen Folgen der Tat für Georgia und den Süden allgemein.

Rasch forderten Politiker*innen und Vertreter*innen des afroamerikanischen Bevölkerungsteils ein Eingreifen des Bundes. Der Süden, so die Argumentation, sei noch nicht in der Moderne angekommen. Die Region sei im Gegensatz zum Rest des Landes von Gesetzlosigkeit, die besonders in Lynchmorden deutlich werde, und einer ineffektiven Strafverfolgung durchzogen. Schwarze würden unterdrückt und in ihrer Existenz bedroht. Der Süden, so argumentierten Kritiker*innen aus dem Rest des Landes, müsste an den landesweiten Standard angepasst werden. Im Zuge dessen wurde oft das Ende der Segregation und Rassendiskriminierung gefordert. Während Lynchmorde einst die Rassenverhältnisse zu stabilisieren schienen, bedrohten sie jetzt den Status Quo der weißen Übermacht und bestärkten die Bürgerrechtsbewegung.

Rechts: Belohnung für Hilfe bei Täterfindung, FBI-Poster
BRIEFE an Richard B. Russell,
Senator aus Georgia
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Briefe an
Richard B. Russell,
Senator aus Georgia

Beide Briefschreiber beklagen sich bei dem Senator Georgias Richard B. Russell über die scheinbar unfaire Behandlung des Südens im Hinblick auf die Morde an den zwei schwarzen Ehepaaren. Während Verbrechen von Schwarzen an Weißen im Norden keine Einmischung der Bundesregierung nach sich zögen, würde im Falle des Mordes an Schwarzen im Süden sofort ein Einsatz von Bundesbehörden eingefordert, so der Vorwurf. Beide Briefe beinhalten eine klare Kriminalisierung Schwarzer. Der Autor des ersten Briefes vermutet gar, dass der Mord an den schwarzen Ehepaaren durch Befürworter der Gleichberechtigung begangen worden sei, um ebendiese zu erzwingen und die Weißen im Süden ins schlechte Licht zu stellen sowie zu entmachten.

Wer sind wir?

Im Zentrum der empfundenen Bedrohung standen weiße Südstaatler*innen, die auch zu Ende des Zweiten Weltkriegs an ihrem Machtmonopol gegenüber Schwarzen festhalten wollten. Bis in die 1930er Jahre hatte sich kaum jemand dafür schämen müssen, an einem Lynching teilgenommen zu haben. Nun stellte sich die Mehrheit der Bevölkerung auch im Süden offiziell gegen Lynchings und rassistische Gewalt. Jedoch blieben weiße Südstaatler*innen überwiegend ausgemachte Anhänger*innen der Rassentrennung und wollten den Rest des Landes davon überzeugen, dass eine gesunde amerikanische Nation nur durch die weiße Übermacht erhalten werden könne. Es wurde also eine neue weiße Südstaatenidentität entworfen, die weiterhin die Überlegenheit der weißen Rasse betonte, nun aber – zumindest offiziell – Verfechter*innen des Lynchings ausschloss.

INFO Weiße Amerikaner wittern
eine Kampagne gegen den Süden

Weiße Amerikaner
wittern eine
Kampagne gegen
den Süden

Richard B. Russell, Senator aus Georgia, reagierte am 27. Juli 1946 im Senat auf Vorwürfe gegenüber seinem Heimatstaat wegen des Lynchmords in Monroe. Er stellte sie als Versuch dar, Georgia und damit den ganzen Süden zu diskreditieren. Derartige Verbrechen seien zu verurteilen, Morde kämen aber auch in anderen Staaten vor. Nur im Süden würden sie derart thematisiert: »If I were to peruse the newspapers of California I doubt not that I could find in them accounts of crimes of unspeakable brutality, including crimes of murder, which had been committed by certain citizens of that State.« Er distanzierte sich damit zwar ausdrücklich von der Tat – jedoch ohne sie als Lynching zu bezeichnen, weigerte sich aber gleichfalls, irgendeinen Zusammenhang mit der Rassentrennung herzustellen und verteidigte diese damit.

Was brauchen wir?

Georgia und damit der ganze Süden sahen sich durch ein verstärktes Eingreifen des Bundes in innerstaatliche Angelegenheiten bedroht und standen unter Zugzwang. Um die nationale Machtposition und die Ordnung der Südstaaten entlang von Rasse, Klasse und Geschlecht zu erhalten, suchte die weiße Mehrheitsgesellschaft im Süden für Lynchmorde neue Definitions- und Erklärungsmuster. Sie musste sich mit der Tat öffentlich auseinandersetzen und sich von ihr distanzieren. Dabei versuchte der weiße Süden wieder die Deutungshoheit über Lynchings zu erlangen und eine »neue« Darstellung der Rassenbeziehungen zu entwickeln. Ziel war zwar das Ende der Lynchmorde, jedoch ging es noch mehr um die Entwicklung und Festigung neuer Strategien gegen die afroamerikanischen Forderungen nach Gleichberechtigung auf lokaler, einzelstaatlicher und nationaler Ebene. Alle Weißen sollten sich landesweit zusammenschließen und gegen afroamerikanische Bestrebungen stellen.

Bild: Angehörige der Opfer vor den frisch ausgehobenen Gräbern.

Was tun wir?

Öffentlich inszenierte Scham war eine Strategie im Umgang mit Lynchmorden. Politiker*innen wie Georgias Senator Richard B. Russell sahen sich gezwungen, offiziell Stellung zu beziehen und legten Wert darauf, ihre Abscheu gegenüber den Gewalttaten deutlich zu machen. Die weiße Bevölkerung im Süden verbannte den Mob so zumindest rhetorisch aus ihrer Mitte. Sie schien sich auch aktiv an der Suche nach den Mörder*innen zu beteiligen. Letztlich blieben die Täter aber meist anonym und ungestraft.

Alte Rechtfertigungsmuster begannen zwar an Wirkmacht zu verlieren, die Kriminalisierung der Lynchopfer blieb jedoch eine konstante Größe bei der Bewältigung der Lynchproblematik. Afroamerikaner*innen, vor allem afroamerikanische Männer, wurden in den meisten Berichten als eine Bedrohung für die weiße Mehrheitsgesellschaft nicht nur im Süden dargestellt. Weiße Amerikaner*innen, vor allem Frauen, wurden hingegen als schutzbedürftige Opfer stilisiert. Diese Deutungen waren Teil des Widerstands gegen eine Gleichstellung von Afroamerikaner*innen. Auch landesweit sollten diese Interpretationen weiße Amerikaner*innen von der Notwendigkeit des Erhalts der Rassen-, aber auch der Geschlechterhierarchie überzeugen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg gelang es Afroamerikaner*innen, Bürgerrechte und Chancengleichheit durch steten Protest und Aktivismus sukzessive durchzusetzen. Dennoch existiert noch immer systemischer Rassismus, wie etwa die Zahlen über schwarze Opfer von Polizeigewalt zeigen. Der veränderte Umgang von Weißen mit Lynchmorden wie in Monroe, Georgia, zeigt, wie die bedrohte Vormachtstellung einer Gruppe durch geschickte Anpassung und Neuordnung der politischen Mittel erhalten werden kann.

Aktuelle Adaption der Fahne, die von Bürgerrechtsaktivisten nach Lynchings aufgehängt wurde.
VIDEO Dr. Christine Knauer
über ihre Forschung

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