Was bedroht uns?

Treibt Globalisierung die Pandemie an oder fällt sie ihr zum Opfer? In einer Welt, die durch Finanzströme, Handel und Reisen immer enger vernetzt werde, sei es für das Virus leicht, sich schnell auszubreiten, behaupteten manche. Die Pandemie müsse als Chance verstanden werden, innezuhalten. Andere sahen die Globalisierung angesichts von Grenzschließungen und Reisebeschränkungen selbst als bedroht an und warnten vor einer De-Globalisierung. Vollmundig verkündete manch eine*r gar das Ende der Globalisierung. Nach der ersten Welle und dem Lockdown im Frühjahr 2020 verschoben sich zum Sommer hin die Debatten. Was eigentlich war im Frühjahr geschehen, wurde gefragt, als sich das Pandemiegeschehen verlagerte und die Bedrohung in Deutschland an Dramatik verlor. Mit dem Ansteigen der Fallzahlen zum Ende des Jahres wandelte und diversifizierte sich die Bedrohungsdiagnose noch einmal. In den Fokus gerieten nun das mangelhafte Krisenmanagement und die schleppend anlaufende Impfkampagne. Vom Ende der Globalisierung war nicht mehr die Rede. Diskutiert wurde stattdessen, wie globale Vernetzung und lokales bzw. nationales Handeln zusammenhängen sollten.

Wer sind wir?

Vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie identifizierte sich eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung als Bürger*innen der Europäischen Union. Ein Drittel gab in Umfragen sogar an, sich als Weltbürger*innen zu fühlen. In diesem Selbstverständnis war es klar, Deutschland als einen festen Bestandteil einer globalisierten Weltordnung zu sehen. Das zeigt sich auch in der Beteiligung Deutschlands an global health-Initiativen wie die der Weltgesundheitsorganisation.

Die Bekämpfung der Corona-Pandemie veränderte im Verlauf des Frühjahrs 2020 dieses Selbstverständnis. Das ‚Nationale‘ wurde wichtiger: Grenzschließungen, Rückholaktionen deutscher Staatsbürger*innen und nationalbestimmte Rhetorik prägten die Debatten. Mit der rasant fortschreitenden Impfstoffentwicklung öffnete sich der nationale Fokus. Deutschland und andere EU-Staaten traten gegenüber den Impfstoffherstellenden gemeinsam auf, statt einzeln in Verhandlungen zu treten. Eine tatsächlich globale Lösung im Sinne des global health-Anspruchs, die auch der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Oktober 2020 gefordert hatte, bedeutete diese europäische Vorgehensweise allerdings nicht.

REDE von Frank-Walter Steinmeier

„Und zugleich wissen wir, dass […] diese Rückzüge hinter nationale Grenzen nicht die Lösung bringen für unsere schwierige Lage. Im Gegenteil, der wirkliche Ausweg aus der Pandemie, der Silberstreif am Horizont unserer endlichen Geduld liegt in der beispiellosen internationalen Anstrengung, in der Sie alle und noch viel mehr Menschen rund um den Globus vereint sind. […] COVID-19 fordert uns alle, das Virus kennt keine Grenzen, die Nationalität seiner Opfer ist ihm gleichgültig. Es wird auch künftig jede Barriere überwinden, wenn wir ihm nicht gemeinsam entgegentreten. Im Angesicht des Virus sind wir zweifellos eine Weltgemeinschaft. Aber die entscheidende Frage ist doch: Sind wir auch in der Lage, als eine solche zu handeln?“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinem
Videogrußwort zur Eröffnung des World Health
Summit 2020, Berlin, 25. Oktober 2020.

Was brauchen wir?

Schon bald nach Ausbruch der Pandemie mobilisierten Regierungen weltweit enorme finanzielle Ressourcen zur Herstellung eines Impfstoffes. In Rekordgeschwindigkeit gelang es einer internationalen Wissenschafts-Community, mehrere wirksame Kandidaten zu entwickeln.

Wie aber sollten die Vakzine global verteilt werden? Konnte es in der Krise eine Weltgemeinschaft geben? Im April startete die WHO die COVAX-Initiative mit dem Ziel, allen Ländern einen fairen Erwerb der nötigen Impfdosen zu ermöglichen. Im Oktober appellierte Bundespräsident Steinmeier an die Welt: Im Angesicht des Virus sei gemeinschaftliches Handeln gefragt. UN-Generalsekretär António Guterres bezeichnete die Impfstoffe als „globale öffentliche Güter“. Außerdem prägten Warnungen vor nationalen Alleingängen die Debatte. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kritisierte einen drohenden „Impfnationalismus“. Auch die Aufhebung der Impfstoffpatente wurde diskutiert. Die Botschaft war klar: Wir sind nicht sicher, bis alle sicher sind. Der Ton änderte sich, als Anfang 2021 die ersten Dosen verteilt werden sollten.

AUDIO Ausschnitt aus der
Rede von António Guterres
00:00 — António Guterres im Deutschen Bundestag anlässlich der Sonderveranstaltung des Deutschen Bundestages aus Anlass des 75-jährigen Bestehens der Vereinten Nationen, Berlin, 18. Dezember 2020

Was tun wir?

Der WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus zog im Januar 2021 eine düstere Bilanz: Angesichts der gewaltigen Kluft bei der Impfstoffverteilung zwischen reichen und armen Ländern stehe die Welt am Rand eines „katastrophalen moralischen Versagens“. Trotz Bemühungen zur Stärkung der COVAX-Initiative rückte auch in Deutschland die internationale Dimension der Impfstoffverteilung in den Hintergrund. Die öffentliche Debatte drehte sich fast ausschließlich um die Frage, wie die gesamte deutsche Bevölkerung möglichst schnell geimpft werden könne. Überlegungen, Risikogruppen global gesehen rasch mit Impfungen zu versorgen, spielten kaum eine Rolle. Während sich reiche Länder den Großteil der verfügbaren Impfstoffmengen sicherten, können über 85 Länder mit niedrigem Einkommen womöglich erst 2023 beginnen, ihre Bevölkerung zu impfen. Die Gräben zwischen globaler Rhetorik und nationalem Handeln zeigen deutlich unterschiedliche Globalisierungswahrnehmungen. Ist das „Globale“, von dem geredet wird, wirklich mehr als die Summe der Nationalismen dominanter Staaten.

AUDIO Anne Jung zu
Patenten und Nationalismus
00:00 — Gastbeitrag von Anne Jung (medico international) auf der attac-Website zum „Thema Covid-Impfstoff: Nur die Summe von Nationalismen“, November 2020 (Text nachgesprochen)

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