Was brauchen Menschen, die Naturkatastrophen ohnmächtig über sich ergehen lassen mussten und nun voller Verzweiflung fragen, warum gerade sie betroffen sind? Ob vor zweitausend, vor tausend Jahren oder in der Gegenwart: Gesucht wird stets eine Erklärung für das Geschehene. Die Mächtigen, die ihre Position erhalten wollen, müssen Erklärungen liefern, um künftiges Handeln in ihrer bedrohten Ordnung zu kanalisieren und die Menschen für Gegenmaßnahmen zu mobilisieren. Diese erkennen ihrer Verzweiflung zum Trotz in einer solchen Erklärung und dem Versuch, die Bedrohung zu bewältigen, einen Sinn.
Was genau Gesellschaften dabei für eine sinnvolle Erklärung halten, kann sich fundamental unterscheiden: Während Seneca in der Antike einen angstfreien, rationalen Umgang mit den naturgegebenen Erdbeben bewirken wollte, glaubten die Menschen im Frühmittelalter, die jahrelangen Wetterextreme seien eine Strafe Gottes für ihr sündiges Verhalten. Den Menschen unter Kaiser Ludwig dem Frommen (814-840) schien es deshalb ratsam, ihren Lebenswandel im Sinne ihres Glaubensbekenntnisses zu verbessern, um Gottes Zorn zu mildern.
Macht zeigt sich also häufig darin, die Deutungshoheit über eine Bedrohung zu gewinnen und die plausibelste Erklärung zu liefern. Welche Erklärungen sich durchsetzen, hat Einfluss auf die Verwendung der Ressourcen einer Gesellschaft. Ob man zum Beispiel Wetterkatastrophen unserer Gegenwart als durch einen menschengemachten Klimawandel verursacht sieht oder nicht, zieht völlig unterschiedliche Konsequenzen beim Umgang damit nach sich.