Gescheitertes
Sozialbauprojekt
in Murcia

 Gescheitertes
   Sozialbauprojekt
in Murcia

Stadtviertel
  mit ungewisser
Zukunft

Damián Omar Martínez

Villarriba ist ein armes, ethnisch diverses Stadtviertel im spanischen Murcia, das in den letzten zwei Jahrzehnten mit einem massiven Verfall der Infrastruktur und sozialer Spaltung zu kämpfen hatte. Es wurde ursprünglich Mitte der 1960er Jahre, zu Zeiten des Franco-Regimes, als Sozialbauprojekt errichtet, um bezahlbaren Wohnraum für einkommensschwache Familien zu schaffen. Ein großer Teil der dortigen Bevölkerung gehört der spanischen Roma-Minderheit an, weshalb es im Volksmund häufig als »Zigeunerviertel« bezeichnet wird. Seit Mitte der 1990er Jahre zogen zudem vermehrt Einwander*innen aus Ländern wie Marokko, Ecuador, Bolivien, der Ukraine und dem Senegal zu.

Links: Pläne und Bilder aus der Bauphase in den 1960er Jahren (Archivo General del Ministerio de Fomento, Gobierno de España)

Entzweite
Nachbarschaft

Seitdem verarmte das Viertel weiter und wurde von der Stadtpolitik stark vernachlässigt: Gebäude verfielen, soziale Dienste vermindert, die Armut und weitere soziale Probleme wuchsen zusehends. Mobilisierungsversuche einer Nachbarschaftsvereinigung und der örtlichen Kirchengemeinde gegen diesen Prozess blieben erfolglos. Mitte der 2000er Jahre schlug ein Bauunternehmer ein privat finanziertes Sanierungsprojekt vor. Er plante, das gesamte Viertel abzureißen und neu zu errichten und versprach den alteingesessenen Bewohner*innen zum Ausgleich modernere und größere Wohnungen. Das Projekt wurde jedoch nie realisiert, doch die daraus entstandenen Debatten entzweiten schließlich die Nachbarschaft.

Links: Modell aus den 1960er Jahren (Archivo General del Ministerio de Fomento, Gobierno de España)

Was bedroht uns?

Der fortschreitende Verfall von Villarribas Häusern wurde zum sichtbaren Symptom einer verschärften sozialen und wirtschaftlichen Situation, in der sich der Staat immer weiter zurückzog. Im Verlauf dieses Prozesses erfuhren die Menschen des Viertels zunehmende soziale Stigmatisierung: Gefangen in einem Teufelskreises aus Verarmung und Verfall wurden sie von der Bevölkerung der Nachbarviertel ausgegrenzt und entwickelten sich in ihren Augen verstärkt zu einer Bedrohung. Während also die Einwohnerschaft Villaribas den Niedergang des Viertels als wachsende Bedrohung erlebten, wurden sie ihrerseits von anderen als Bedrohung wahrgenommen. Doch auch die geplante Sanierung, die beiden Bedrohungsszenarien hätte Abhilfe schaffen können, empfanden die Bewohner*innen als Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt der Nachbarschaft. Aus den entgegengesetzten Einstellungen zu dem Sanierungsprojekt gingen zwei verfeindete Gruppen hervor, die sich durch die Ansichten der jeweils anderen bis heute bedroht fühlen.

Links: Heutiger Zustand der Wohngebäude.
VIDEO Prof. Dr. Boris Nieswand
über die Forschungsbedingungen

Wer sind wir?

Die Einwohnerschaft Villarribas setzt sich aus vielen verschiedenen Gruppierungen zusammen. Die Alteingesessenen waren stolz auf ihre Arbeiterklassenidentität und hatten einen starken Gemeinschaftssinn, der sich vor allem in einer dynamischen Gruppe von Aktivist*innen zeigte. Allerdings verließen viele von ihnen Villarriba, sobald sie sozial aufstiegen oder Familien gründeten. Sie sahen sich trotzdem weiterhin den Anliegen des Viertels moralisch verpflichtet. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl zerfiel, als den älteren Aktivist*innen im Kontext des Sanierungsprojekts vorgeworfen wurde, die Interessen des Viertels nicht mehr angemessen vertreten zu können. In der Folge löste sich die alte Nachbarschaftsgruppierung auf und wurde durch zwei neue Vereinigungen ersetzt: Eine unterstützte das private Sanierungsprogramm, während die andere sich ihr entgegenstelle und die Erneuerung des Viertels als staatlich-öffentliche Aufgabe verstand. Heute erscheint die Identität des Viertels aufgrund dieser Entwicklungen von außen als stigmatisiert und von innen gespalten.

VERGLEICH Spaltung und Zusammenhalt
in bedrohten Ordnungen

Was brauchen wir?

Während sich die Menschen Villarribas darüber einig waren, dass die Überwindung ihrer Ausgrenzung gemeinsamer Anstrengungen bedurfte, widersprachen sich die beiden Gruppen in der Frage, auf welche Weise dies zu erreichen sei. Die Strategien, um Unterstützung für die eigene Sache zu mobilisieren, unterschieden sich so stark, dass sich zwei Parallelwelten entwickelten.

Angehörige der ersten Gruppe versammelten sich um die »alten Aktivist*innen« und richteten sich gegen das Projekt des privaten Bauunternehmers. Stattdessen forderten sie einen internationalen Ideenwettbewerb und sahen die Verantwortung für die Sanierung bei der Stadtverwaltung. Personen in der zweiten Gruppe unterstützten dagegen das private Sanierungsprojekt. Sie sprachen den »alten Aktivist*innen« die Legitimität ab, für das Viertel zu sprechen, demonstrierten für das Projekt und boykottierten die Vorschläge der ersten Gruppe.

Galerie: Heutiger Zustand des Viertels

Was tun wir?

Obwohl das private Sanierungsprojekt Mitte der 2000er Jahre den Segen der Stadtverwaltung erhielt, wurde es nie umgesetzt. Der Bauunternehmer wies die Schuld dafür der globalen Finanzkrise zu und behauptete, eine verbesserte Wirtschaftslage abwarten zu müssen, um das Projekt finanzieren zu können.

Unter dem Druck der ersten Gruppe setzte die Stadtverwaltung Ende 2016 schließlich ein neues Projekt zur Verbesserung der sozialen Lage und gegen den städtischen Verfall auf ihre Agenda. Die erste Aktivistengruppe kritisierte dies allerdings als leere Absichtserklärung ohne praktische Konsequenzen. Der zweiten Gruppe gingen die Pläne der Stadt im Vergleich zu denen des Bauunternehmers nicht weit genug, um die Probleme des Viertels wirklich lösen zu können.

Heute ist die Lage in Villarriba schlimmer als je zuvor. Keine der Versprechen der jeweiligen Akteur*innen wurden je umgesetzt. Das Misstrauen der Einwohnerschaft gegenüber den Fähigkeiten sowohl der städtischen Institutionen als auch des Bauunternehmers sitzt tief und die Hoffnung auf eine Besserung der Situation schwindet. Nun gesellt sich zu der verschlimmerten baulichen Situation auch noch die tiefe, aus dem gescheiterten Sanierungsprojekt hervorgegangene Spaltung der Bevölkerung. Sie zu überwinden stellt eine zusätzliche Herausforderung für beide Seiten dar, zumal die Unterstützung der Stadt stark von der Einigkeit des Viertels abhängt. Auch wenn der Ausgang ungewiss ist, sind in letzter Zeit entsprechende Versuche zu beobachten, die darauf abzielen, den Konflikt unter der Frage nach sozialer Gerechtigkeit zu lösen, anstatt weiter über die Position gegenüber dem Bauunternehmer zu streiten.

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