Gewaltfreie
Proteste für
Biafra

   Gewaltfreie
Proteste für
   Biafra

Die Igbo
  in Nigeria

Jan Sändig

Gandhi, die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, Berlin 1989 und der Tahrir – bei gewaltfreien Protestbewegungen fällt der Blick auf viele Teile der Welt. Selten wird dabei jedoch Afrika südlich der Sahara betrachtet. Weiterhin gilt Afrika als Chiffre für Armut, Hunger und Krieg. Doch übersieht diese Perspektive viele positive Entwicklungen seit Beginn des 21. Jahrhunderts, zu denen erstaunliche Fälle von gewaltfreien Protesten unter widrigen Umständen zählen.

Bild: Demonstration für Unabhängigkeit in Lagos

Schlechte Chancen
auf Unabhängigkeit

So demonstriert die Volksgruppe der Igbo in Nigeria seit 1999 friedlich für einen unabhängigen Staat Biafra. Mit ca. 32 Mio. Menschen umfassen die Igbo eine größere Bevölkerung als viele bestehende Staaten. Dennoch stehen ihre Chancen auf Unabhängigkeit schlecht. Im nigerianischen Bürgerkrieg (1967 – 1970) verdeutlichte die Zentralregierung gewaltsam, dass die Unabhängigkeit Biafras um jeden Preis verhindert werden soll. Zugleich gibt es im internationalen System große Vorbehalte gegen die Schaffung neuer Staaten. Doch warum streben die Igbo trotz niedriger Erfolgsaussichten erneut nach der Unabhängigkeit Biafras – und warum protestieren sie ohne Gewalt?

Foto: Hungerndes Kind im Biafra-Krieg (Dr. Lyle Conrad)

Was bedroht uns?

Die Igbo sehen sich massiv benachteiligt und bedroht durch die Zentralregierung. Diese wird aus ihrer Sicht seit der Unabhängigkeit Nigerias 1960 von den überwiegend muslimischen Hausa-Fulani aus Nordnigeria kontrolliert. Ihr geheimes Ziel sei es, die Igbo von der Macht fernzuhalten oder sogar auszulöschen. Dahinter vermuten sie zum einen das Machtstreben des muslimischen Nordens nach Nigerias Ölreichtum, zum anderen das Vorhaben, sie vom Christentum zum Islam zu bekehren.

Schon den Biafra-Krieg in den 1960er Jahren begreifen Igbos als ihren Verteidigungskampf gegen den muslimischen Norden, um einen Genozid an ihrem Volk abzuwehren. Seit Kriegsende bestehe die Unterdrückung vor allem in einer politischen und wirtschaftlichen »Marginalisierung«, so der übliche Begriff der Igbo. Auch wurden Igbos wiederholt von der Terrorgruppe Boko Haram, der Polizei und dem Militär angegriffen. Dabei dramatisieren viele Igbos jedoch die tatsächliche Bedrohung, wozu die Biafra-Bewegung mit flammenden Appellen und beinahe täglichen Warnungen vor angeblichen neuen Massakern an Igbos erheblich beigetragen hat.

Wer sind wir?

Das Volk der Igbo ist vereint durch ihre Sprache, den starken christlichen Glauben sowie gemeinsame Erfahrungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Aus Sicht vieler Igbos hindern die historischen Umstände sie daran, ihr Potenzial als großartiges Volk auszuschöpfen. Doch der muslimische Norden sowie die Yoruba in West-Nigeria könnten dies nicht zulassen, würde es sie doch ihre Machtstellung kosten. So seien die Igbo mit Gewalt hineingezwungen in die gegenwärtige Misere Nigerias. Tatsächlich sehen sie sich im Lager der westlichen Nationen und Industriestaaten.

Dieses Selbstbild ist von der neuen Biafra-Bewegung mitgestaltet worden. Die Bewegung ist zunächst rund um die Organisation MASSOB entstanden und umfasst mittlerweile eine Vielzahl von Gruppen. Sie schreiben ihrem Volk immer wieder Einfallsreichtum und Genialität zu. Ein unabhängiges Biafra würde daher von allein prosperieren. Diese Argumente finden bei Igbos großen Anklang, nicht zuletzt, weil es bisher zu keiner Aufarbeitung des Biafra-Krieges und Versöhnung mit den anderen Völkern Nigerias kam.

INTERVIEW-AUSZUG MASSOB-Gründer
Chief Ralph Uwazuruike, 27.11.2014
Having studied Gandhi, I know the potency of non-violence. Because at the end of the day, even when you fight in a battlefield and kill so many, you must still come to the roundtable and discuss. (…) You cannot solve the problems by fighting, you have to sit together and talk, discuss the issues. That is why I cherish non-violence. Why should you fight in the first place and waste human lives? quotes

Nachdem ich Gandhi studiert habe, kenne ich die Macht der Gewaltlosigkeit. Denn selbst wenn man auf dem Schlachtfeld kämpft und viele tötet, muss man immer noch zum Verhandlungstisch kommen und diskutieren. (...) Du kannst die Probleme nicht durch Kämpfe lösen, man muss sich zusammensetzen und die Probleme diskutieren. Darum schätze ich die Gewaltlosigkeit. Warum sollte man überhaupt kämpfen und Menschenleben verschwenden?

Interview mit dem MASSOB-Gründer und -Anführer Chief Ralph
Uwazuruike, Owerri, 27.11.2014

Was brauchen wir?

Die neue Biafra-Bewegung hat den Igbo einen klaren Weg gezeichnet: Nicht ein erneuter Krieg, sondern friedliche Proteste führen ihr zufolge zur Unabhängigkeit. Die Kriegserfahrung und Niederlage Biafras hat zweifelsohne zu dieser Strategiewahl beigetragen, doch die Gewaltfreiheit ist nicht selbstverständlich; manchen Igbos verdeutlicht der Biafra-Krieg trotz ihrer Niederlage sogar, zu welchen außerordentlichen Kampfesleistungen ihr Volk in der Lage ist. Aus diesen Ansichten ließe sich leicht Unterstützung für einen erneuten Waffengang gewinnen.

Die Anführer der Bewegung widersprechen dem jedoch. Sie argumentieren, dass nur gewaltfreie Proteste eine realistische Chance haben, denn dies sei die präferierte Strategie der internationalen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen. An diese appelliert die Bewegung, ein Referendum über die Unabhängigkeit Biafras zu organisieren. Dies könne die friedliche Abspaltung von Nigeria ermöglichen, wie schon die Beispiele Südsudan, Kosovo oder Osttimor zeigen. Zugleich verweisen die Anführer der Bewegung immer wieder auf Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela, um zu zeigen, welche Macht der gewaltfreie Widerstand entfachen kann.

Illustration: Jamil Mohamed
VERGLEICH Die Rolle von Gewalt
in bedrohten Ordnungen

Was tun wir?

Um Aufmerksamkeit und internationale Unterstützung zu gewinnen, hat die Biafra-Bewegung zahlreiche Protestaktionen organisiert: z. B. Demonstrationen, Boykotte, das Hissen der Flagge Biafras und Petitionen an die Vereinten Nationen. Die Zentralregierung jedoch hat wiederholt mit Gewalt geantwortet, um die im Vielvölkerstaat Nigeria besonders provokante Forderung nach Unabhängigkeit zu unterbinden. So sind bereits tausende Aktivist*innen und alle Anführer der Bewegung zeitweise inhaftiert gewesen. Mehrere hundert Unterstützer*innen sind in Razzien der Sicherheitskräfte sogar getötet worden.

Unter solchen Umständen bewaffnen sich Befreiungsbewegungen typischerweise. Auch viele Mitglieder der Biafra-Bewegung sind zunehmend radikalisiert, doch ihre Anführer rufen weiterhin zu Gewaltverzicht auf. Sie appellieren an die Geduld der Igbo und erklären, dass ein gewaltsamer Befreiungskampf ihre Lage nur verschlimmern würde. Dabei wartet die Bewegung aber auch darauf, endlich von der politischen Elite ihres Volkes unterstützt zu werden. Im Gegensatz zu den armen Massen der Bevölkerung unterstützen die meisten Igbo-Politiker*innen die Forderung nach einer Abspaltung nicht: Unter den fortbestehenden politischen Umständen sehen sie dieses Vorhaben als unrealistisch an, sodass Biafras Unabhängigkeit nur ein Traum sein könne und die Zukunft der Igbo in Nigeria läge.

VIDEO einer MASSOB
Demonstration in Lagos
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