Istrien —
eine multikulturelle
Region

    Istrien —
eine multikulturelle
         Region

Vajka kontra
–stets anders!

Daniela Simon

Auf der Halbinsel Istrien kam es seit der Neuzeit mehrfach zu Wechseln in den politischen und sozialen Verhältnissen. 1797 wurde die mitunter venezianisch geprägte Region als Teil des Habsburgerreiches zum ersten Mal zu einer politischen Einheit verbunden. Die Grenzlage an der nördlichen Adria zwischen Triest und Rijeka ist Ausgangspunkt für Istriens multikulturelle Geschichte. Slawische, germanische und romanische Sprachen vermischten sich. Die vielfältigen Migrationen auf der Halbinsel hinterließen zudem ein bis heute unverkennbares Muster mediterraner und kontinentaler Kulturen. Die ab Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende staatliche Modernisierung und der für diese Zeit typische Nationalismus trugen jedoch entscheidend zur allmählichen Entmischung dieser Multikulturalität bei. Seitdem verhandeln die istrischen Bevölkerungsgruppen über ethnische Zugehörigkeiten und nationale Interessen.

Genealogie
von Hybridität

Das habsburgische Kronland Istrien rückte Mitte des 19. Jahrhunderts in den Fokus der österreichischen Wissenschaft. Zunächst schrieben Naturforscher*innen und bald auch Statistiker*innen, Ethnograf*innen und Volkskundler*innen über die Halbinsel. Sie diagnostizierten und veranschaulichten mit statistischen Daten und ethnografischen Karten die herausragende kulturelle Vielfalt in Istrien. So zählte der Ethnograf und Statistiker Karl Freiherr von Czörnig dreizehn Ethnien und unzählige „Mischungen“ auf der Halbinsel. Die größten Bevölkerungsgruppen bildeten die Kroat*innen, Italiener*innen und die Slowen*innen. Ihre Beobachtungen in Istrien fassten die österreichischen Expert*innen unter dem Begriff „Hibridismus“ zusammen. Diese Klassifizierung der Bevölkerung nach kulturellen Kategorien sollte den Wissensdurst der Regierung nach Informationen über ihre Herrschaftsgebiete stillen und bei der Modernisierung, Integration und Zentralisierung des Staates helfen.

Was bedroht uns?

Die Verfassung von 1867 gewährte die kulturelle Gleichberechtigung aller Volksstämme in der Habsburgermonarchie. Der aufkeimende Nationalismus konnte dadurch jedoch nicht aufgehalten werden. Soziale Probleme wurden von den politischen Akteur*innen Istriens zunehmend national umgedeutet. Deren Versuch klarer ethnischer Kategorisierung stieß auf eine Bevölkerung, die sich weder sprachlich noch ethnisch eindeutig zuordnen ließ. Auch  die lokalen Eliten mussten die sprachliche und kulturelle „Vermischung“ der istrischen Bevölkerung erkennen. Im Gegensatz zu den österreichischen Forscher*innen erklärten sie diese aber zu einer Bedrohung für die istrische Ordnung. 

Unter österreichischer Herrschaft wurde die nach links gewandte goldene Ziege mit roten Hufen und Hörnern vor blauem Hintergrund zum offiziellen Wappensymbol für das vereinte Istrien unter österreichischer Souveränität. Die istrisch-slawischen Nationalist*innen lehnten dieses Symbol im 19. Jahrhundert ab, weil sie darin eine Metapher der Romanität und der Italianisierung Istriens sahen. Wie in der Habsburgischen Zeit wird die istrische Ziege heute von regionalistischen Strömungen als Symbol der istrischen Einheit und Multikulturalität hervorgehoben.
GALERIE Ethnographische
Kategorisierung durch
Zeichnungen und Fotos
Straßenszene aus Vodnjan/Dignano.  Nachweis: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. 10. Das Küstenland (Görz, Gradiska, Triest und Istrien). Wien 1891, S. 219. „Die physische Beschaffenheit der Bevölkerung des Küstenlandes“.  Nachweis: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. 10. Das Küstenland (Görz, Gradiska, Triest und Istrien). Wien 1891, S. 153. Frauentypen aus Cherso/Cres und Veglia/Krk.  Nachweis Stradner, Josef: Zur Ethnographie Istriens (Mit 15 Abbildungen). In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 3 (1897), S. 97–111, hier S. 104. Postkarte mit Männerporträt.  Nachweis: Nikočević, Lidija: Iz „etnološkog mraka“. Austrijski etnološki tekstovi o Istri s kraja 19. i početka 20. Stoljeća [Aus der Bild 5: „Ciccia zwischen Castelnovo und Pinguente“/Die Tschitschin zwischen Podgrad/Castelnuovo und Buzet/Pinguente. Nachweis: Memorie di un viaggio pittorico nel littorale Austriaco di A. Selb ed A. Tischbein. Trieste 1842. (Österreichische Nationalbibliothek, Signatur: Fid °5486)

Die Bevölkerungsgruppe der Tschitsch*innen repräsentierte für die österreichischen Wissenschaftler*innen die kulturelle Hybridität Istriens. Im Rahmen ihrer ethnographischen Forschungstätigkeit produzierten sie Zeichnungen und Fotografien zu den vermeintlichen ethnischen Bevölkerungsgruppen. In den meist stereotypen Darstellungen lassen sich kulturelle Hierarchisierungen beobachten. 

Darstellungen der Bevölkerung

Wer sind wir?

Seit 1880 führte die österreichische Administration alle zehn Jahre Erhebungen zur Umgangssprache ihrer Bevölkerung durch. Für die als hybrid beschriebenen Istrier*innen war die Frage nach der Umgangssprache hingegen völlig ungeeignet, denn sie wechselten im Alltag je nach Situation oft mehrfach die Sprache. Nationale Akteur*innen verstanden es trotzdem, die Erhebungen für ihre Zwecke zu nutzen. Galt bei einer Zählung eine Person zunächst als slowenisch und wurde zehn Jahre später bei der nächsten Erhebung dann als italienisch (fremd-)beschrieben, so konnten das beide nationalen Gruppen als Erfolg oder Misserfolg deuten. Fälschungen und Missdeutungen waren typisch für die statistischen Erhebungen und machten so indirekt auch Unterschiede in der Machthierarchie zwischen Italiener*innen, Slowen*innen und Kroat*innen sichtbar. Demgegenüber begann ein Teil der istrischen Bevölkerung sogar, sich selbst als ethnisch hybride und deshalb weder slawische noch italienische Bevölkerungsgruppe zu beschreiben. Konnte diese „kulturelle Hybridität“ eventuell sogar die Lösung nationalistischer Identitätskonflikte in der gesamten Habsburgermonarchie sein?  

Hintergrundbild: Pola – August Tischbein und August Selb, 1842; rechts: Zählung der Bevölkerung und der wichtigsten häuslichen Nutztiere, 1880
PROTOKOLL-AUSZUG Volkszählungen
als politisches Instrument

Wegen Fälschungen und Formfehlern mussten die Umgangssprachenerhebungen häufig wiederholt werden. Die Zählkommissare waren parteiisch und mit der Komplexität der Situation überfordert. Die von lokalen Parteien unternommenen Kontrollzählungen zeigen außerdem, dass selbst innerhalb von Familien mit denselben Familiennamen unterschiedliche Angaben zur Umgangssprache gemacht wurden. 

Bild: Protokolle aus Kontrollzählungen, 1901

Was brauchen wir?

Um dem Problem nationalistischer und liberaler Fliehkräfte nach der Revolution von 1848/49 zu begegnen, produzierte die Habsburgermonarchie in atemberaubender Geschwindigkeit ethnografisches und statistisches Wissen zu ihren Regionen. Auch in Istrien dachten Menschen darüber nach, wie man die Diversität der Halbinsel kategorisieren könnte. Wegen der nur schleppend laufenden nationalen Mobilisierungskampagnen zeigte sich ein Teil der Bevölkerung zudem politisch wie national unentschlossen. Insbesondere kroatisch-nationale Kreise produzierten deshalb entsprechende Bezeichnungen und Beschreibungen. Als „kunterbunt“ (Šarenjaci) oder „italianisiert“ (Potalijančenjaci) beschrieben sie Personen, die sich als national indifferent bezeichneten, eine Mischsprache sprachen, sich „italianisierten“ oder häufig die politischen Lager wechselten. Um die Jahrhundertwende setzten sich die staatlichen und lokalen Diskurse über die „Vermischung“ in der Realität fest und eine sprachlich-gemischte, „hybride“ und sich als spezifisch „istrianisch“ verstehende Gruppierung forderte nun selbst politische Teilhabe ein.

Zeitungskarikatur „Franina i Jurina“, Hintergrundinformationen: In der ersten kroatisch-istrischen politischen Zeitung illustrierte ab den 1870er Jahren die satirische Rubrik „Franina i Jurina“ die konfliktreiche Aushandlung der slawisch-romanischen kulturellen „Vermischung“
VIDEO Jazzmusikerin Tamara
singt in einer Mischung aus
slawischen und romanischen
Dialekten aus Istrien

Was tun wir?

Je nachdem welche politischen Ziele die Akteur*innen gegen die Hybridität verfolgten, machten sie sich unterschiedliche Strategien zunutze. Um die Wende zum 20. Jahrhundert bekämpften die slawischen Parteien die romanisch-slawische „Vermischung“, während die italienischen Eliten die kroatisch-slowenische politische Verschmelzung als eine Bedrohung für ihre sozioökonomische Vorherrschafft auf der Halbinsel betrachteten. Die Forderungen reichten von der kulturellen Gleichberechtigung von Italiener*innen und Slaw*innen in Istrien, einem Anschluss Istriens an Italien bis hin zur Forderung einer nationalen Vereinigung mit anderen slawischen Ländern innerhalb Habsburgs. Allen Zielvorstellungen gemein war jedoch eine Sicht auf Istrien als unteilbare Region, wenngleich immer unter dem Vorbehalt der jeweiligen nationalen Vorherrschaft. Die Region könne politisch, wirtschaftlich und kulturell nur erfolgreich sein, wenn ihre politischen Grenzen aufrechterhalten würden. Ein wichtiges strategisches Mittel der lokalen Politiker*innen war dabei die Gründung von Zeitungen, Vereinen und Institutionen, die die jeweiligen nationalen Interessen wirkungsvoll vertreten sollten. Das rief auch hybride „Istrianer*innen“ auf den Plan, die die nationalistischen Strategien mit einer eigenen Zeitung und Partei zumindest zeitweilig erfolgreich konterten. Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam es in dieser Zeit zwar nur selten, jedoch prägten politische Blockade und aggressiv geführte Debatten bis 1914 eine ganze Generation und wirken bis heute fort.

Hintergrundbild: Politische Einteilung der österreichischen Monarchie
Ausblick Differenzkategorien
und Realitäten

Ab den späten 1970er Jahren entstand in Istrien ein neuer Multikulturalismus. Das zunächst von Intellektuellen und Wissenschaftler*innen vor dem Hintergrund des erstarkten Nationalismus in der Region formulierte multikulturelle Weltbild mündete zu Beginn der 1990er Jahre in der politischen Bewegung „Istrische Demokratische Versammlung“ (IDS/DDI). Nahezu hundert Jahre später ergaben sich somit ähnliche Konstellationen aus Bedrohungen und Bewältigungsstrategien. Die Betonung von Vielfalt und Hybridität ist dabei bis heute ein wichtiges Mittel zur Schaffung von Solidarität. In der Langzeitperspektive zeigt sich zudem noch etwas: Ethnien, Nationen sowie Kulturen werden durch Menschen konstruiert. Sie sind hybride Gebilde, deren Bedeutungen und Zuschreibungen sich in Zeit und Raum immer verändern.

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