Bosheit, Raub
und Sünde im
11. Jahrhundert

     Bosheit, Raub
und Sünde im
   11. Jahrhundert

Revolution féodale?

Das frühe 11. Jahrhundert ist eine Zeit voller Gewalt und politischer Unordnung – so jedenfalls beschrieben es damalige Geschichtsschreiber. Der Mönch Rodulfus Glaber klagte in den 1030er Jahren: „Bosheit, Raub, und Sünde regieren die Welt, das Schwert, Seuchen und Hunger wüten überall“. Historiker*innen nahmen wegen solcher Darstellungen lange an, dass diese Zeit die traumatische Geburtsstunde des hohen Mittelalters gewesen sei. Die Zeit um 1000 galt als Zeit einer „Revolution“. Die Macht des Königs schwand, die Ordnung war auf den Kopf gestellt und das feudale Mittelalter entstand. Inzwischen ist diese Deutung allerdings in die Kritik geraten: Denn auch Gewalt und Zergliederung können eine in sich stabile Ordnung bilden.

Autor*innen: Annette Grabowsky, Christoph Haack, Steffen Patzold,
Isaac Smith

Neue Formen der Herrschaft in Katalonien: Die erste „convenientia“

Die auf das Jahr 1021 datierte „Convenientia“ zwischen den Grafen Berenguer Ramon I. von Barcelona (c. 1006–1035) und Ermengol II. von Urgell (vor 1010–1039) zeigt neue Formen politischer Ordnung in Katalonien um das Jahr 1000: Im Vertrag „kommendierte“ Ermengol sich Berenguer, das heißt, er ordnete sich ihm unter und verpflichtete sich zur Treue. Ferner erklärte Ermengol sich bereit, mehrere Burgen für Berenguer zu erobern, die dessen Mutter, die Gräfin Ermessenda (c. 975–1058), kontrollierte. Im Gegenzug versprach Berenguer, Ermengol die gleichen Burgen zur Leihe zurückzugeben, weiterhin Unterstützung sowie Geld und ein Schwert als Pfand. Die beiden Grafen konnten sich nicht an eine höhere Instanz, einen König, wenden. Sie mussten andere Lösungen finden, um ihre Absprache abzusichern: Die Verschriftlichung, gestützt von Ritualen wie der Kommendation und gegenseitigen Eiden, Pfändern und Zahlungen. Ob die Klauseln des Vertrags jemals verwirklicht wurden, ist unklar: Berenguer und Ermessenda versöhnten sich nämlich bald wieder.

Hintergrund: Schematischer Aufriss des Klosters Cluny II, wie es um das Jahr 1000 ausgesehen haben könnte.

Was bedroht uns?

Der wissenschaftliche Streit über die feudale Revolution um 1000 ist nicht zuletzt eine Frage der Perspektive. Historiker*innen beobachten, dass um die Jahrtausendwende zahlreiche Institutionen aus den Fugen gerieten, die seit dem 8. Jahrhundert die soziale und politische Ordnung stabilisiert hatten: Könige verloren als zentrale Autoritäten vielerorts an Einfluss, die Rechtsprechung ging in die Hände lokaler Eliten über, die eigenständig Politik machten. Diese Umformung der Ordnung bedeutete, dass die Menschen sich nicht länger auf die etablierten Verfahren zur Schlichtung von Streit und Schaffung von Stabilität verlassen konnten. 

Die Mitlebenden selbst jedoch haben diese Entwicklungen anders beschrieben als Historiker*innen: Sie diagnostizierten vor allem ein moralisches Problem in ihrem eigenen Verhalten und fürchteten deswegen den Zorn eines strafenden Gottes. Geschichtsschreiber wie der burgundische Mönch Rodulfus Glaber prangerten das Verhalten der Eliten an: Sie kauften und verkauften in ihrer Gier geistliche Ämter und Weihen (Simonie) und bedrängten die Kirchen!

AUDIO Rodulfus Glaber klagt an!
00:00 — Rodulfus Glaber, Historiarum libri quinque, Buch II, c. 6 § 12, ed. J. France 1989, S. 72 (Text nachgesprochen)

Wer sind wir?

Heutige Historiker*innen beobachten im Rückblick, wie sich im 10. Jahrhundert politische Identitäten regionalisierten. Während bis etwa 900 fast ganz West- und Mitteleuropa zum sogenannten Frankenreich (regnum Francorum) gehörten, bezeichnete das Wort Francia um 1000 herum nur noch den Herrschaftsbereich des französischen Königs in der Île-de-France um Paris. Regionen wie Aquitanien, Burgund oder Katalonien gingen politisch eigene Wege. Hier hatte der König in der Praxis kaum noch Bedeutung. Im ehemaligen Ostfrankenreich, das Teile des heutigen Deutschlands umfasste, entwickelte sich ein eigenständiges Königtum.

Zur gleichen Zeit entwarfen Mönche mit der sogenannten „dreigeteilten Ständeordnung“ ein neues Idealbild der Gesellschaft. Sie bezogen sich dabei auf ein älteres Gesellschaftsmodell, das bis dahin aber nicht bestimmend gewesen war. Die Mönche wiesen darin allen Mitgliedern der Gesellschaft unterschiedliche Aufgaben und einen festen Platz innerhalb der gottgewollten Ordnung zu. Für sie bestand diese Ordnung aus drei Ständen: aus jenen, die beteten (Geistliche), jenen, die kämpften (Ritter), und jenen, die arbeiteten (Bauern).

Rechts: Das geteilte Frankenreich nach den Verträgen von Verdun und Ribemonet um 879/880.
Hintergrund: Kaiser Otto III. (980-1002) ist in dieser um 1000 entstandenen Zeichnung mit Repräsentanten der geistlichen und weltlichen Macht dargestellt. Neben dem Modell der Drei Stände blieb auch die Zweiteilung der politischen Ordnung in ein geistliches und weltliches Element wichtig
TEXT Die gottgwollte Ordnung
Das Haus Gottes, das eins zu sein scheint, ist nun also dreiteilig: Einige beten, andere kämpfen und wieder andere arbeiten. Diese drei sind zusammen und erdulden keine Trennung: Durch den Dienst des einen bestehen die Werke der einen, alle leisten sich gegenseitig Unterstützung.
Text: Adalbero v. Laon, Carmen ad Rotbertum regem, ed. C. Carozzi, Poème au roi Robert 1979 (Übersetzung Annette Grabowsky)

Illustration: Die Figuren von Priester, Ritter und Bauer sind einer Nordfranzösischen Handschrift aus dem späten 13. Jh. entnommen. Die Vorstellung von den drei Stände der „Beter, Kämpfer, Arbeiter“ wie sie um 1000 herum ein Ideales Bild der Gesellschaft beschrieb, wurde in den folgenden Jahrhunderten zu einem wichtigen Ordnungsmodell.
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Was brauchen wir?

Für die Mitlebenden war das beste Mittel, um die gottgewollte Ordnung wieder herzustellen, eine gute, gottgefällige Lebensweise möglichst aller Menschen. Dabei bildete die Lehre von den „drei Ständen“ unterschiedliche Lebenswirklichkeiten ab. Ein Großteil der heute verfügbaren Quellen entstand in einem kirchlichen Kontext. Deshalb lässt sich die Perspektive von Geistlichen am besten beschreiben: Sie forderten vor allem eine striktere Trennung von Weltlichem und Geistlichem. Die Sichtweise der bäuerlichen Bevölkerung wiederum wird vor allem in ihren Klagen deutlich: Sie beschwerten sich über die Maßlosigkeit ihrer Herren und „schlechte Gewohnheiten“ (malae consuetudines). Damit waren allzu drückende Abgaben und Dienstpflichten gemeint. 

Die Wünsche der Betenden und der Arbeitenden sind aber nicht klar voneinander zu trennen: ein moralischer Lebenswandel und respektvoller Umgang mit der Kirche bedeuten zugleich auch ein angemessenes Verhalten gegenüber den Bauern. Die weltlichen Herrschenden wiederum sahen sich als diejenigen, die für Recht und Ordnung zu sorgen hatten. Es war ihnen wichtig, die Verhältnisse vertraglich so zu regeln, dass sie sich aufeinander verlassen konnten. 

Die Figur mit dem Wasserkrug stammt aus einer Handschrift, die kurz vor dem Jahr 1000 im Kloster Prüm entstand. Hier ist die biblischen Erzählung der „Hochzeit zu Kana“ illustriert: Jesus verwandelt Wasser in Wein. Der abgebildete Mann gießt Wasser in einen leeren Weinkrug. Die Illustration versinnbildlicht die rechte christliche Lehre – der gewandelte Wein – als Leitidee der moralischen Reformbemühungen der Zeit um 1000

Was tun wir?

Dass sich Menschen in einer bedrohten Ordnung wähnen, heißt noch nicht, dass sie auch Maßnahmen ergreifen, die wirklich zur Lösung der Probleme führen. Die Problemdiagnose, Forderungen und tatsächliches Handeln können deutlich auseinanderfallen.

So lassen sich in der Zeit um 1000 zwar verschiedene Initiativen für eine Reform des christlichen Lebens beobachten; vor Ort aber reagierte man vor allem pragmatisch, nicht mit moralischen Ermahnungen. An die Stelle der königlichen Vermittlung in politischen und rechtlichen Streitfällen traten eidlich fixierte Verträge, auch wenn möglichst Autoritäten eingebunden wurden, die beide Streitparteien als höher gestellte Instanz anerkannten. Das konnte je nach Region weiterhin der König sein, andernorts aber auch Bischöfe oder andere Mächtige. Es veränderten sich jedoch die Formen, in denen man Streit austrug und beilegte: Gewalt wurde zu einem wichtigen Mittel, um Konflikte sichtbar zu machen. Daher rührt der Eindruck von Historiker*innen, einer besonders gewalttätigen Zeit gegenüberzustehen.

Hintergrund: Cancelleria reial, Pergamins
Ramon Berenguer I, extra. Nr. 2001.
TEXT Die "Cancelleria reial"
in Barcelona

Die gezeigte Vereinbarung zwischen den Grafen Ramon Berenguer I. von Barcelona und Ermengol II. zeigt die Regelung eines konkreten Konflikts in der Zeit um 1000. Auf die großangelegten, umfassend gedachten moralischen Reforminitiativen der Zeit nimmt dieses Schriftstück wenig Bezug. Vielmehr zeigt die Urkunde eine pragmatische Reaktion, die in gegenseitigen Absicherungen und Verabredungen bestand. Letztlich versuchten mächtige Akteure wie die beiden Grafen, innerhalb bestimmter politischer Konstellationen ihre eigenen Interessen durchzusetzen und ihr politisches Eigeninteresse zu wahren.

Rechts: Cancelleria reial, Pergamins
Ramon Berenguer I, extra. Nr. 2001.
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